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60 Jahre eines Provisoriums

60 Jahre deutsche Verfassung - Seite 2

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Autor: Gert Flegelskamp   
Artikel 20:

    (1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
    (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
    (3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
    (4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

Aus meiner Sicht bedeutet das, dass die Ausschließlichkeit der Verteilung der Gesetzgebung auf Bund und Länder mit Art. 20, Abs. 2 und Art. 79, Abs. 3 nicht in Einklang steht. Die Argumentation der "demagogischen Verführung des Volkes durch extreme Gruppierungen" ist eine so durchsichtige Argumentation, dass man eigentlich nur lachen kann. Ein ganzes Volk ist schwerer durch Demagogen zu beeinflussen, als eine kleine Anzahl von Volksvertretern. Wer also schützt das Volk vor der "kapitalen Beeinflussung der Volksvertreter(?)", wobei ich "kapitalen" durchaus wörtlich meine. Hinzu kommt, dass ein Volk bei der Einbindung in direkte Demokratie politisch wesentlich informierter und interessierter sein wird, als ein resignierendes Volk, welches sich vom politischen Geschehen abwendet und mehrheitlich äußert: "Einwände haben keinen Zweck, denn ich kann ja ohnehin nichts machen!" Ein solches Volk ist dann allerdings auch wesentlich anfälliger für die Einflussnahme durch "demagogische" Verführer.

Es waren nicht die von KPD und NSDAP in Auftrag gegebenen und abschlägig beschiedenen Volksbefragungen, die der NSDAP zur Macht verhalf, sondern ausschließlich die Politik der damals agierenden Parteien und es waren vor allem die Vorläufer der heutigen Parteien CDU/CSU und FDP, die mit ihrer Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz Hitler die absolute Macht ermöglichten.

Man muss zugeben, als das GG entstand, war die Frage des Plebiszit vor allem eine Frage, der Möglichkeiten, die damals sehr eingeschränkt und teuer waren. Aber im Zeitalter der digitalen Kommunikation könnte man plebiszitäre Elemente ohne jede Schwierigkeit einführen, sei es nun die Volksbefragung (Beispiel sei der Vertrag von Lissabon oder zuvor die Abschaffung der DM), aber auch die Einbringung von Volksbegehren, das gerade jetzt wieder sehr direkt in Bezug auf das GG, Art. 146 und eine neue Verfassung mehr als angebracht erscheint. Die Frage der Erfordernis bzw. Nichterfordernis einer neuen Verfassung sollte das gesamte Volk entscheiden und nicht mit verdummender Argumentation über das phantastische Grundgesetz ein einzelner Kommentator des Springer-Konzerns, der mit solchen Artikeln in seinen Gazetten durchaus eigennützige Wunschvorstellungen verfolgt.

Die fehlende Eignung des GG als Verfassung ergibt sich für mich bereits aus den folgenden Punkten:
  • Eine Verfassung, die nach Belieben den politischen Wünschen angepasst werden kann, ist nichts wert, vor allem nicht in einem Land, wo die Konkurrenz der Parteien sich ausschließlich in verbalen Attacken erschöpft, während sie in der echten politischen Arbeit kaum noch unterscheidbar sind.
  • Eine Verfassung, in welcher die Gewaltenteilung so schwammig formuliert vorgesehen ist, dass sie leicht unterlaufen werden kann, ist nichts wert. Für dieses Land kann man sagen: "Gewaltenteilung findet nicht statt!"
  • Ein Land, in welchem keine Institution die Gesetzgebung auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin prüft (mit dem Innenministerium wird der Bock zum Gärtner gemacht) und in dem kein Antrag auf Überprüfung gesetzgeberischer Aktivitäten durch eine Gruppe von Bürgern erfolgen kann, ein Land, in dem außer den gesetzgebenden Elementen (Organklage einer Partei oder Teilen des Parlaments) niemand die komplette verfassungsmäßige Überprüfung durch das dazu bestimmte Organ (BVerfG) veranlassen kann, sondern nur im Maße der eigenen Betroffenheit von Teilen der/des Gesetze(s) und in welchem diese Institution fast alle Beschwerden einzelner Bürger auf den Instanzenweg verweist und damit die Praktizierung möglicher verfassungswidriger Gesetzgebung über einen Zeitraum von vielen Jahren zulässt, ein solches Land hat keine Verfassung, die etwas taugt.

Das GG ist, wie es die vielen Väter und wenigen Mütter auch vorsahen, ein Provisorium und entgegen der Meinung des Herrn Schmid ein schlechtes Provisorium. Die Aussage im Artikel des Herrn Schmid: "Mit gutem Grund sind die Bürger der DDR 1990 der Bundesrepublik Deutschland beigetreten." ist schlichtweg falsch und ich denke, ganz bewusst so formuliert. Die Bürger der DDR wollten das Ende der DDR. Aber sie wollten die Wiedervereinigung und die haben sie nicht selbst ausgehandelt, sondern die Leute, die dem DDR-Regime lange gedient haben (und zum großen Teil auch heute wieder in den etablierten Parteien aktiv sind). Nicht zu vergessen, der im 2+4-Vertrag definierte Arbeitstitel heißt "Einigungsvertrag" und lediglich ein Zusatzvertrag behandelt die Einzelheiten der durch die Wiedervereinigung bedingten Regelungen.

Die Argumentation der Politik, die Bevölkerung habe sich bei Meinungsumfragen in "überwältigender Mehrheit" für das GG als Verfassung ausgesprochen, ist Verdummung pur. Meinungsumfragen sind und waren keine Volksbefragung und durch die Art der Fragestellung und die eingeschränkten Möglichkeiten der Beantwortung sind sie derart manipulativ, dass man getrost von einer Verschwörung gegen das Volk sprechen kann.

Gert Flegelskamp

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